Wie Gunther Sehring das Feld der Konkreten Kunst neu absteckt
Roland Held

„Das Kunstwerk ( ... ) darf nichts von den formalen Gegebenheiten der Natur, der Sinne und der Gefühle enthalten. Wir wollen Poetik, Dramatik, Symbolik usw. vermeiden. Das Gemälde soll ausschließlich aus bildnerischen Elementen konstruiert werden, d.h. aus Flächen und Farben. Ein Bildelement bedeutet nichts anderes als sich selbst, weswegen auch das ganze Bild nichts anderes bedeutet als sich selbst.“ So forderte es 1930 der Holländer Theo van Doesburg (1883-1931, niederländischer Maler, Schriftsteller, Architekt, Bildhauer, Typograf und Kunsttheoretiker) in seinem „Manifest der Konkreten Kunst“ – eine Richtung moderner Kunst, die seither in immer wieder neuen Ausprägungen und Attributen („absolut“, „elementar“, „radikal“, „universell“, „systematisch“) ihre Vitalität unter Beweis gestellt hat. Vitalität? Tatsächlich ist unter dem Etikett der Konkreten Kunst neben einem Kernbestand von Spitzenwerken auch viel Epigonales hervorgebracht worden. Epigonales, das zwar in redlicher Konsequenz die Erforschung der von van Doesburg genannten Grundelemente Fläche und Farbe, später vom Schweizer Max Bill (1908-1994, Architekt und Künstler) um Linie, Volumen und Raum erweitert, vorantrieb. Das jedoch im zaghaften Festklammern etwa an rationalen Farbabstufungen und geometrischen Ordnungsmustern zu, mit Verlaub, ziemlich trockenen Resultaten führte.
Gunther Sehring sieht sich in der Entwicklungslinie der Konkreten Kunst verankert, deren Fundus er freilich um eine Facette bereichert, bei der die Dominanz des kammermusikalischen Kleinformats und subtil-suggestiver Detaileffekte sich mit hoher Originalität, ja mit Prisen Humor bestens vertragen. Was schon damit beginnt, dass jedes Sehring'sche Werk in die Kategorie „Mischtechnik“ fällt. Malerei und Zeichnung sind, was die Besetzung der Fläche betrifft, oft nur Statisten neben den Hauptakteuren Collage und, tendenziell, Assemblage. Eine Ästhetik des aus mehreren Bildern Zusammengesetzten ist bereits charakteristisch für die ausladenden Beispiele auf Leinwand, von denen der Künstler ursprünglich herkommt.



Formula 76 - Amor vincit omnia, 2015, Acryl, Öl auf Leinwand, 80 x 115 cm

Als wären da sechs, sieben Papiere zum zentralen Rechteckblock aufgeleimt, tritt das Querformat „Amor vincit omnia“ auf (Formula 76 - Amor vincit omnia). Alles natürlich Feinmalerei. Beherrscht wird jedes „Blatt“, das selbst nur Teil eines einst größeren Blattes scheint, vom wie abgeschnittenen Fragment eines exakten Streifens oder Kurvenschwungs. Die Fragmente wiederum sind so in Nachbarschaft gebracht, dass sie untereinander andocken, wenn auch mit markanten Brüchen bezüglich Farbe oder Richtung. Neben Grüntönen bestimmen das Gemälde Rosig-, Zimt- und Brauntöne – sämtlich Weiß-Abmischungen. Töne, die sich auch im Umfeld der Blätter-Formation wiederfinden, sowie in den beiden Vertikalbalken, die das Ganze am linken und rechten Rand verklammern. Absolute Ausgewogenheit, ohne doch zu Tode stillgestellt zu sein, ist offenkundigste Qualität des Endergebnisses.

Mehr Unruhe lässt Gunther Sehring in der fortlaufenden Werkgruppe der „Etüden“ zu, die er im Standardmaß 24 x 18 cm seit 1992 betreibt und die, jahresweise durchnummeriert, mittlerweile mehr als 500 Stück umfasst. Hier ist Collage tatsächlich Trumpf. Nicht in der erzählerischen Manier, wie man sie aus den von dichterischen Texten begleiteten Collage-Romanen des Surrealisten Max Ernst kennt, wo dieser allerlei Figuren aus damals schon nostalgischen Lexika und wissenschaftlichen Folianten, Reiseberichten und Populärschmonzetten herausschnippelte und zu Neuerfindungen, oszillierend zwischen Traum und Alptraum, verschmolz, zieht Sehring zeitgenössisches Druckmaterial vor: Kataloge für Möbel, Sanitärwaren, Mode, Schmuck, Architekturmagazine, Werbeprospekte, Zeitschriften, alles, was Hochglanzillustration bietet, je üppiger im Format, desto besser. Denn statt nach vollständigen Figuren steht ihm der Sinn nach Ausschnitten, so stark vergrößert, dass nur noch Farbe, abstrakte Struktur und eventuell ein paar rätselhaft gekappte Ding-Hinweise übrigbleiben, notfalls auch um 90 oder 180 Grad gedreht, um der Wiedererkennung und dem im Alltag regierenden Aussagezwang ein Schnippchen zu schlagen.
Gemäß dem Hochformat der meisten seiner „Etüden“ sind es überwiegend vertikale Collage-Elemente, die Sehring mal paarweise, mal reihend arrangiert, wobei er im Zweifelsfall das Starre durch sacht gegenlehnende Komponenten durchbricht. Bei dünnen Papieren bevorzugt er zum Aufleimen eine selbstangerührte Emulsion, zum makellosen Glätten eine Gummiwalze. Andere Klebstoffe springen bei, wenn es ums Einfügen substanziellerer Zutaten geht, wie Partien aus eigenen, verworfenen Leinwandarbeiten, Kreppband, Holzleisten, Plättchen von Glas, sogar hier und da, als makelloser Flachquader, ein Radiergummi. Macht Gunther Sehring da sein Werkzeug zum Gestaltungsmittel?

       

Etüden 9 und 10 – „In der Stadt I + II“, 2016, Acryl, Öl, Farbstift, Papier, Collagen auf Malplatten, je 24 x 18 cm
Etüden 2 und 3 – „KLanQuadrat“, 2015, Acryl, Öl, Papier, Holz, Collagen/Assemblagen auf Malplatten, je 18 x 18 cm


Durchaus. Ist doch manches, was den „Etüden“ Lineares beisteuert, weder mit dem Stift noch mit dem spitzen Pinsel gezeichnet – hier hat der chirurgisch präzise, entlang des Lineals eingesetzte Radiergummi die Farbschicht der Zeitungsfotos weggerubbelt und Striche hinterlassen, hell wie ein Lichtstrahl oder Kondensstreifen (Etüden 9 und 10 – „In der Stadt I + II“). Einen plastischen Gegenstand ins Bild zu bringen, bereichert dieses zudem um die Möglichkeit eines realen Schlagschattens.
In diesem Sinne wird dem aus einem Katalog für Künstlerbedarf stammenden, eincollagierten roten Rähmchens in der linken Hälfte des Diptychons „KLanQuadrat“ (Etüden 2 und 3 – „KLanQuadrat“) von drei Kubusformen in der rechten Hälfte Paroli geboten.

Es gibt Arbeiten, da wähnt man sich vor der Wand einer Galerie, und andere, wo es eher die Wand in einem Baumarkt ist. Wieder andere Arbeiten verheißen Durchblicke zwischen Wänden, oder schräg vorbei an Pfeilern, Glasflächen, Möbeln, Stoffballen, Maschinen. Perfekte Illusion von Tiefenraum ist nicht gewollt, stattdessen gerade mal so viel Andeutung davon, dass die Neugier des Betrachters gekitzelt wird. Ähnlich verhält es sich, wenn doch mal figürliches Bildmaterial von Models oder Sportlern auftaucht – stets bleibt es ausgerichtet auf das, was es, in der Regel rabiat angeschnitten oder anderweitig verfremdet, zur Komposition beizutragen vermag. Die für Sehring auch Konstruktion ist, obschon auf Basis einer vorausgegangenen gründlichen Dekonstruktion der Elemente, die dadurch erst frei werden, sich gegenseitig aufzufangen und zu ergänzen, herauszufordern und zu kontern. Im eigentlich malerischen Fach besteht Sehrings Leistung im Hinzufügen stufenlos feiner Farb- und Lichtverläufe, aber auch, da er dem Reinlichkeitsfetischismus herkömmlicher Konkreter Kunst misstraut, im Setzen eines wie unabsichtlichen Kleckses hier und da, eines Schlenkers oder Kratzers, eines Loches in der sonst makellosen Farbfläche – Informell-Expressives in homöopathischer Dosis; Provokation durch Anti-Purismus, Unerwartetes und Spannung triumphieren über regelkonforme Sterilität.

Spannung knistert auch in der jüngst immer häufigeren Paarung zweier „Etüden“ zum Diptychon. Sie ist Vorbedingung für die unkonventionell gelungene Komposition, auf die Gunther Sehrings Ehrgeiz zielt: „Funktioniert das Zusammenspiel? Das Ergebnis muss vor meinem Auge bestehen.“ Erst wenn es eine Weile abgelagert ist, entschließt sich der, nach eigenem Bekenntnis, mit den Jahren immer langsamer, weil anspruchsvoller gewordene Bildurheber zum abschließenden Firnissen mit einem Hauch Fixativ, der das Heterogene homogenisiert.
Und die Titel? Oft tritt zur Serienkennung ja ein Verbaltitel hinzu: Ornamentgeburt, Nabel der Welt, Grauer Sommer, Kleiner Oktober, Goldmarie, Pechmarie. Dazu kommen explizite Hommagen Sehrings (selber eifriger Sammler von Werken der Klassischen Nachkriegsmoderne) an namhafte Kollegen wie Eduardo Chillida oder Vermeer. Doch muss man sich die Titelfindung assoziativ-nachträglich vorstellen. Über die Tatsache hinaus, dass Farb- und Lichtstimmung sowie angerissene Gegenstände weniger auf Natur als auf die vom Menschen gestaltete, insgesamt städtische Welt verweisen, gibt es im Sehring'schen Schaffen kaum Literarisches, und schon gar keine Märchenidylle. So ist jede Etüde ein kleiner Bezirk gestalteter Realität von eigenen Gnaden. Ihres Schonraums bedürfen die fertigen Arbeiten dennoch. Je mehr Zweidimensionales in die dritte Dimension schwillt, je mehr aus Fläche Raum wird und aus Bild Relief, desto wichtiger das Glas, welches das Werk (bislang mit maximal zwei Zentimeter Abstand vom Bildträger) schützt vorm Einstauben, aber auch vorm klammheimlichen Befingertwerden – nehme doch keiner an, die Lust des Betrachters an er Erkundung dessen, was da an Tiefe möglich ist, sei geringer als die des Künstlers!

Dr. Roland Held, Autor und Kunstkritiker, Darmstadt (2016)
Quelle: Held, Roland, Wie Gunther Sehring das Feld der Konkreten Kunst neu absteckt, in: palette & zeichenstift, 24. Jg., Nr. 128, 6/2016, S. 46–51.


Sammlung aus der Zerstreuung
Zu Gunther Sehrings Werkreihe „Formula“
Christine Jung

Sie setzen sich aus einzelnen Teilen zusammen, die miteinander und mit dem Ganzen korrespondieren. Immer wieder tauchen verschiedene Formen auf der Fläche auf und wieder unter, sie ziehen geradewegs oder schwungvoll bewegt über die Ebenen, halten inne oder lösen sich auf – mitunter öffnen oder verbinden sie sich auch über Grenzen hinweg. Zu sehen sind hier mehrere Bildfragmente im Bild, die trotz aller Brüche in großer Ordnung erscheinen, fest eingebunden in einen abstrakten Zusammenhang. „Formula“, so lautet der Titel einer Serie mit Bildern von Gunther Sehring, die seit den neunziger Jahren in immer wieder neuen Variationen entstehen. Es sind insbesondere Malereien auf Leinwand, die ihren Ursprung in der Collage haben. Mehr noch: es ist gleichsam das Prinzip Collage, das in der Kunst des Malers eine bedeutende Rolle spielt – und dies weit über das Technische hinaus vor allem auch formal und inhaltlich.

Im Werk des 1965 in Frankfurt am Main geborenen Künstlers fügt sich eins harmonisch zum anderen und geht dabei eine spannungsreiche Beziehung ein. Entstanden sind vielschichtig wirkende Kompositionen, die „das komplexe Verhältnis von Gegenständlichkeit und Abstraktion ein Stück weit neu definieren“1. Waren es anfangs vor allem Landschaften und später mehr noch Porträts, die der Künstler schuf, ändert sich im Laufe der Zeiten das „Bild“, es wandelt und verwandelt sich. Auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen entwickelt Sehring gegen Ende seines Kunststudiums ein neues Vokabular, eine individuelle Sprache. Der Maler und Zeichner, der zugleich Kunsthistoriker ist und sich wissenschaftlich mit der Kunst der Moderne befasst, fand in den mittleren neunziger Jahren zu seiner ganz eigenen künstlerischen „Form“, zu einer völlig eigenständigen Formensprache, die er selbst einmal als „expressiven Konstruktivismus“ beschrieben hat.
Nicht von ungefähr betitelt er eine Gruppe von Werken mit dem lateinischen Wort „Formula“, dem Diminutivum von „Forma“2, das eine Form und Gestalt oder Figur bezeichnet. Denn hier, in diesen Arbeiten, geht der Künstler von der Realität einer geometrischen Form aus, die er auf Einzelnes, auf Elementares reduziert und in einen neuen Kontext stellt. Das heißt, er geht in dieser Serie „deduktiv“ vor: vom Allgemeinen zum Besonderen, das er in einen anderen Zusammenhang, in eine komplexe Verbindung bringt.

Zum Vorschein kommen in seinen „Formulae“ lineare Balken oder geschwungene Bögen und Kurvenformen, darunter Teile einer ovalen Form oder Kreissegmente, die mitunter isoliert bleiben, sich vielfach aber auch annähern, überschneiden oder auch „kreuzen“. Viele dieser geometrisch-konstruktiven Formen zeigen klare, scharf umrissene Konturen, einige zeugen von sanften Verläufen und Übergängen, wieder andere sind in ihrer Regelmäßigkeit unterbrochen, sie lassen spontane Auf- und Ausbrüche erkennen. So erscheinen sie kontrastreich in dunkler Zeichnung auf hellen rechteckigen Flächen, die im Zentrum des Bildes dicht neben- und übereinander angeordnet sind. Diese wirken, als wären sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und dann Stück für Stück wieder neu zusammengesetzt worden, so dass sich vielfältige Formgebilde oder -figuren herausbilden. Dabei werden sie flankiert oder eingerahmt von zwei Balken, die vertikal am rechten und linken Bildrand verlaufen. Diese äußeren Streifen wirken nicht nur stabilisierend auf das Bildganze, sie lenken darüber hinaus den Blick auf das zentrale Geschehen im Bildinnern, das hier wie dort in den Vordergrund tritt. Es erhebt sich im Bildraum oder ruht vielmehr auf nuancenreichem Grund, der in verschiedenen lichthellen Tönen leuchtet.

Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Nichtfarbe Weiß, die keineswegs „farblos“ oder „unbunt“ ist, sondern viel mehr als das: Sie ist die Summe aller Farben des Lichts, eine Farbe von großer symbolischer Bedeutung und Wirkkraft, die das Reine und Vollkommene, das Höhere und Immaterielle verkörpern kann. Gleichzeitig ist das Weiße auch ein Zeichen für die Stille oder vielmehr für das Schweigen, wie es Wassily Kandinsky über das Wesen der Farbe und ihre Wirkung schreibt3. Nach seinen Worten wirke das Weiße auf unsere Psyche wie ein großes Schweigen, es klinge innerlich wie ein Nichtklang, was manchen Pausen in der Musik entspreche4. Für ihn ist es ein „Schweigen, welches nicht tot ist, sondern voll Möglichkeiten“5, so heißt es in seiner berühmten Schrift „Über das Geistige in der Kunst“, die auch der musikbegeisterte Künstler Gunther Sehring in diesem Zusammenhang zitiert. Wie er in seiner Schrift „Gedanken – nicht nur zu meinen Bildern der letzten Jahre“ betont, interessiert ihn insbesondere das farbige Weiß und seine mannigfaltigen Abstufungen6, die er in vielfältiger Weise, leicht modulierend, an- und abschwellend, einsetzt. Und so changiert in den Bildgründen mal ein stilles Grau oder luftiges Blau, dann wieder ein lichtes Gelb oder zartes Rosa. Es ist die Farbe Weiß, die hier dezent in variierenden Tönen erklingt: Eine Farbe voller Möglichkeiten, von großer Wirkung, die unterschiedliche Assoziationen wecken kann.

Auch wenn in seinen „Formulae“ zunächst alles gegenstandslos erscheint, rufen die Kompositionen in ihrer Farb- und Formgebung immer wieder verschiedene Erinnerungen wach. Sie verweisen mal auf Figürliches oder Organisches, auf Vegetabiles oder Architektonisches, auf Sakrales und Humanes, so wie es mitunter auch in den einzelnen Bildtiteln zum Ausdruck kommt. Als „Winterfrucht“ bezeichnet Sehring beispielsweise eine Folge von Bildern7, in denen kühle winterliche Töne vorherrschen.



Formula 64 – „Winterfrucht II“, 2009, Mischtechnik auf Leinwand, 80 x 60 cm

Seine Variationen des Themas konzentrieren sich auf wenige geschwungene Formen in eisig blauen Verläufen, die an naturhafte Erscheinungen in der kalten Jahreszeit erinnern. Jedoch bleibt alles äußerst vage, sozusagen unausgesprochen im lichten Bildraum, gleichsam wie ein „Schweigen“, um nochmal Kandinsky zu Wort kommen zu lassen, „welches plötzlich verstanden werden kann“8. Denn es entwickelt sich oder bildet sich heraus in der individuellen Wahrnehmung der einzelnen Formgebilde, die darüber hinaus auch wie grafische Zeichen „schwarz auf weiß“ gesehen werden können. Immer wieder fühlt sich der Betrachter herausgefordert, das Voneinander-Getrennte zusammenzufügen und die zeichenhafte Bildsprache zu entschlüsseln, die in ihrem kontrastreichen Hell und Dunkel immer wieder auch an fernöstliche Kalligrafien erinnert. Und tatsächlich wirken die einzelnen Bildelemente wie Teile einer unbekannten Bilderschrift oder wie Schriftbilder, die aber nicht wirklich zu lesen oder zu übersetzen sind. Sie sind vielmehr ausgehend und doch losgelöst von der Realität wahrzunehmen. Das heißt: Sie scheinen hier etwas bildlich auszudrücken, das sprachlich nicht zu fassen ist. Denn „Kunst machen heißt“, laut Gunther Sehring, „in Bildern zu denken, um den Begriffen zu entkommen“9. In diesem Sinne hat er hier zu einer bildnerischen Formel gefunden, „für das, was wortlos ist“10 – für das Unaussprechliche und Unbegreifliche, für „eine nicht verbalisierbare Dimension menschlicher Existenz“11.

In seinen „Formulae“ entwirft der Künstler seine ganz eigene Zeichensprache, indem er die Geometrie der Formen vielfältig variiert, abwandelt und collageartig kombiniert. Dabei geht es ihm hier aber nicht um die Collage als Technik, wie in seiner Werkgruppe der „Etüden“12, in denen er Bildausschnitte miteinander verklebt, sondern vielmehr um die Collage als Methode, als Prinzip. Seine Malereien13 scheinen wie aus einzelnen Bildelementen zusammengefügt, sie stellen das Fragmentarische anschaulich in ihr Zentrum und bringen es in eine neue Einheit, die ihrerseits unvollständig beziehungsweise unvollendet bleibt, offen für den Betrachter und seine Wahrnehmung. So geht es dem Künstler immer wieder auch um die Sichtbarmachung von Prozessen, um Wandlung und Verwandlung. Alte Ordnungen werden zerstört und aufgelöst, sie werden ins Chaos gebracht, das dann am Ende wieder in einer neuen Ordnung erscheint. Mit anderen Worten: Wir sehen und erkennen in seinen Bildern eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war. Und erblicken darin Bruchstücke eines größeren Ganzen, die in ihrem Zusammenwirken viele neue Perspektiven, eine andere Sicht auf die Dinge bieten können. Es ist gleichsam das „Zerstreute“, das sich in gespannter Ruhe vor unseren Augen sammelt. Oder vielmehr noch: Es ist die Sammlung aus der Zerstreuung, die zu vielen neuen Betrachtungen, zum Um- und Weiterdenken einlädt.

Dr. Christine Jung, Kunsthistorikerin, Kronberg/Taunus, (2021, Text bisher unveröffentlicht)


1 Siehe Vorsicht Kunst!, Kunstausstellung Gunther Sehring – Korrespondenzen, 16.04. – 15.09.2019, Volksbank Dreieich, unter https://www.vorsicht-kunst.info/ausstellungen/kunstausstellung-von-gunther-sehring/ [Stand: 25.03.2021].
2 Vgl. Gunther Sehring, Gedanken – nicht nur zu meinen Bildern der letzten Jahre, Oktober 2009.
3 Siehe Barbara Oettl, Weiss in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Regensburg 2008, S. 42 ff.
4 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 3. Aufl. der 2004 revidierten Neuaufl., Bern 2009, S. 100.
5 Ebenda.
6 Sehring (o. Fußn. 2).
7 Zur „Winterfrucht IV“ siehe Ulrich von Mengden, Das Hochheimer Kunstwerk der Woche: Gunther Sehring „Formula 67 – Winterfrucht IV“, In: Allgemeine Zeitung 04.10.2013.
8 Kandinsky (o. Fußn. 4), S. 100.
9 Gunther Sehring, „Monats-Maquetten“ zu Kunst und Leben (Auszüge 2011-2021), Mai 2014.
10 Ebenda, August 2011.
11 Sehring (o. Fußn. 2).
12 Zu den „Etüden“ siehe Roland Held, Wie Gunther Sehring das Feld der Konkreten Kunst neu absteckt, in: palette & zeichenstift, 6/2016, S. 46-51.
13 In der Werkserie der „Formulae“ sind darüber hinaus auch Glasmalereien entstanden, die - wie auch seine Gemälde - nach einem Entwurf im Maßstab 1:10 geschaffen wurden.